Die Begrifflichkeit der agilen Methoden mutiert im Geschäftsalltag immer mehr zum „Buzzword“. Tiefgründiger und gleichzeitig ungenauer wird es, wenn zu den agilen Methoden noch konkrete Prozesse wie Design Thinking, KANBAN oder SCRUM ins Spiel gebracht werden. Oft treffen hier viele verschiedene Vorstellungen und Wünsche auf eine uneinheitliche Definition. Diese Vorstellungen und Wünsche stammen üblicherweise von Führungskräften oder Entscheidern, die das Potenzial von Agilität gegenüber linearen Prozessen bzw. Wasserfall-Abläufen erkannt oder gar schon erlebt haben. Doch sind agile Methoden wirklich die goldene Einbahnstraße in den betriebswirtschaftlichen Erfolg?

In meiner Arbeit mit StartUps sowie mit etablierten Corporates zeigte sich, dass Unternehmen jeglicher Größe trotz Ihrer unterschiedlichen Strukturen gleichermaßen von agilen Methoden profitieren können, aber nicht in jeder Situation und auch nicht um jeden Preis.

„Wenn die Technologie und die Anforderungen einer Aufgabe, eines Projekts oder einer Transformation unklar bzw. unbekannt sind, dann handelt es sich in der Regel um eine so genannte komplexe Problem- oder Aufgabenstellung. Genau hier haben die agilen Methoden ihren Anwendungsfall.“

Die weitläufig bekannten agilen Methoden stammen ursprünglich aus der Software-Entwicklung und haben das Ziel, Lösungen mit dem größtmöglichen Kundennutzen zu erzeugen, ohne vorab konkret zu wissen, wie diese Lösung am Ende aussehen wird.

Wir haben hier eine Analogie zum Thema Personalführung und Teambuilding erkannt. Abteilungen und Teams sind eine heterogene Mischung an Kompetenzen und Persönlichkeiten, bei der das optimale Zusammenspiel im Urzustand unbekannt ist. Dabei steht jede Führungskraft vor der Herausforderung, einerseits die fachliche und andererseits die emotionale Kompatibilität dieser Gruppe für die bestmöglichen Ergebnisse zu optimieren.

Unser erster Schritt bestand darin, die unterschiedlichen agilen Methoden zu betrachten und hinsichtlich dieser Anforderung zu bewerten und, wo nötig, diese entsprechend umzugestalten. Das SCRUM-Framework stellte hierfür die ideale Grundlage dar, da es iterativ, team-getrieben und auf ein funktionsfähiges Ergebnis nach jeder Iteration ausgelegt ist. Aus dem SCRUM-Framework bedienten wir uns von einzelnen Elementen und fügten diese zu einer eigenständigen Methode zusammen: der (agilen) Team-Retrospektive.

1. Team-Retrospektive als agile Führungsmethode mit dem Fokus auf Transparenz, Konsens und Fortschritt

Der Fokus der Team-Retrospektive, kurz Team-Retro genannt, liegt auf einem einheitlichen Verständnis der Team-Orientierung und des ehrlichen, konsequenzfreien Austauschs aller Beteiligten. Wie wird das bewerkstelligt? Zunächst wurde das „Product Increment“ des klassischen SCRUM durch das von uns formulierte „People Consent“ als Ergebnistyp ersetzt.

Dieser „People Consent“ beschreibt ein Paket von verknüpften Maßnahmen, Verantwortlichkeiten und Zeithorizonten, die auf ein strategisches Ziel hinwirken. Während jeder Iteration geben alle Beteiligten ihre individuellen, momentanen Herausforderungen als Themen ein, woraus sich durch das Mitwirken der Teilnehmenden priorisierte Themen als strategische Ziele des Teams ergeben. Anders als beim linearen Management sind diese Themen und die dazugehörigen Arbeitspakete nicht durch Führungskräfte, sondern durch das Team selbst bestimmt, wodurch ein höheres Engagement und stärkerer Ownership erzeugt werden als durch das fremdbestimmte Management von außen.

Voraussetzung hierbei ist, dass dem Team die grundlegende Strategie und das Big Picture des Projekts, der Abteilung oder des Unternehmens (vornehmlich bei StartUps) bekannt ist. Dies klar und verständlich darzustellen ist die im Kontext der Team-Retrospektive einzige Aufgabe der Führungskraft, also des Stakeholders. Ansonsten ist der Stakeholder inhaltlich nicht weiter an der Team-Retrospektive beteiligt. Um einerseits ein Einwirken von der Führungskraft zu verhindern und andererseits die korrekte Durchführung des Prozesses der Team-Retrospektive zu begleiten, wird für diese Aufgabe ein RETRO-Master, vergleichbar mit der Rolle eines SCRUM-Masters im SCRUM-Framework, eingesetzt.

In der folgenden Grafik werden der Prozess und der organisatorische Rahmen der Team-Retrospektive Methode dargestellt.

Das Innovationsritter Team-Retrospektive Framework

Abbildung 1: Team-Retrospektive Framework

2. Ablauf und Vorgehensweise des Team-Retrospektive Prozesses

2.1 Erstmalige Durchführung der Team-Retrospektive

Bei der erstmaligen Durchführung der Team Retrospektive wird mit anstatt mit dem Schritt des „Consent Reviews“ nur mit dem „Warm-Up“ gestartet. Hierbei handelt es sich um eine Fragestellung durch den RETRO Master, welche an das Team gerichtet wird. Diese kann entweder humorvoll offen oder auf ein konkretes Ereignis bzw. eine konkrete Situation bezogen gestaltet werden. Im Vorlauf muss mit den Stakeholdern ein Zeitraum definiert worden sein, auf den sich die Team Retrospektive bezieht, beispielsweise die vergangenen drei Monate, das letzte Halbjahr oder seit Jahresbeginn.

Für die humorvolle, offene Variante sind folgende Fragestellungen beispielhaft möglich:

  • „Wenn die letzten drei Monate ein Film gewesen wäre, welcher Filmtitel wäre es aus deiner Sicht gewesen?“
  • „Wie würdest du das letzte Halbjahr mit fünf Adjektiven beschreiben?“
  • „Welche drei besonderen Ereignisse im Zusammenhang mit deiner Arbeit sind dir seit Jahresbeginn in Erinnerung geblieben?“

Ziele des humorvollen, offenen „Warm-Ups“ sind,

  • das Team auf die aktive Mitarbeit in der Team Retrospektive einzustimmen,
  • besonders prägende Situationen aus einem definierten Zeitraum wieder ins Gedächtnis zu bringen
  • und eine gute Grundstimmung für den nächsten Schritt „Processing & Identification“ aufzubauen.

 

Die Warm-Up Variante mit dem konkreten Ereignis ist gut für Teams geeignet, die bereits eine oder mehrere Iterationen der Team-Retrospektive durchgeführt haben und den Prozess kennen. Für diese Variante können folgende Fragestellungen angewandt werden:

  • Welche Schlussfolgerungen hast du durch Ereignis X bezogen auf deine Arbeit in den letzten drei Monaten gezogen? Nenne mindestens drei.
  • Wie würdest du deine Gefühlslage nach Situation Y im letzten Halbjahr mit fünf Worten beschreiben?
  • Welche zwei positiven und zwei negativen Dinge haben sich durch Ereignis Z seit Jahresbeginn für dich verändert?

Ziele des konkreten, auf ein Ereignis oder eine Situation bezogenem Warm-Ups sind,

  • einschneidende Ereignisse im Team aufzuarbeiten und daraus entstandene persönliche sowie fachliche Differenzen aufzuzeigen, die im laufenden Geschäftsalltag entweder aus Zeitmangel, aus Scham oder Schüchternheit nicht angesprochen würden und
  • um den offenen und transparenten Umgang mit solchen Themen in einer geschützten Umgebung für das Team zu ermöglichen.

2.2 Regelmäßige Durchführung der Team-Retrospektive

Wird die Team-Retrospektive in einem laufenden Prozess durchgeführt, wird der „People Consent Backlog“ aus der letzten Iteration als erster Berührungspunkt zum Start in die aktuelle Team-Retrospektive genutzt. Hierbei wird lediglich reflektiert, worauf sich das Team in der letzten Iteration verständigt hat, und es kann dabei selbst entscheiden, ob die vereinbarten Themen in die praktische Anwendung überführt wurden oder nicht.

Anschließend wird mit einer der in 2.1 beschriebenen Warm-Up Methoden ein aktuelles Stimmungsbild erzeugt.

2.3 Durchführung der Retro-Methodik zur Identifikation von aktuellen Themen

Mit der Vollendung des Warm-Ups wird in eine Retro-Methodik übergeleitet (eine Auswahl geeigneter Retro-Processing Methoden findet Ihr hier). Bei der Durchführung der Methode wird ein Canvas bereitgestellt, auf dem entsprechend der jeweiligen Methode Indikatoren platziert sind, für die das Team Input liefern soll. Abhängig von der Größe des Teams kann es sein, dass der Input pro Teilnehmer begrenzt werden muss (bspw. pro Indikator maximal zwei Themen). Dies ist notwendig, um den individuell festgesetzten Zeitrahmen einzuhalten, welcher üblicherweise eine bis anderthalb Stunden für die gesamte Team-Retrospektive ist. In der nachfolgenden Grafik wird ein Ergebnistyp der „Identification“ beispielhaft gezeigt.

Beispiel für die Identifikationsphase bei der Team-Retrospektive

Abbildung 2: Beispielhafter Ergebnistyp nach Durchführungs-Phase

Nachdem die aktuell wichtigen Themen durch das Team eingebracht wurden, legt das Team durch eine Priorisierungs-Phase den Fokus auf Kernthemen. Hierbei erhält jedes Teammitglied eine begrenzte Anzahl an Priorisierungs-Punkte, üblicherweise zwei bis drei pro Person. Hieraus kristallisieren sich drei bis fünf Themen, die in der nächsten Phase „Discussion & Consent“ im Team vertieft diskutiert werden.

2.4 Diskussion, Maßnahmenfindung und People Consent

Die priorisierten Themen werden in der letzten Phase, bezeichnet als „Discussion & Consent“, in Form einer so genannten „Wall of Work“ mit Maßnahmen („What“), Verantwortlichen („Who“) und Terminen („When“) diskutiert. Die hieraus entstandene Wall of Work mit den definierten Maßnahmen, Verantwortlichen und Terminen wird zum „People Consent Backlog“, welcher die Arbeitspakete für die bevorstehenden Iteration bis zur nächsten Retro beinhaltet. In der nachfolgenden Grafik wird exemplarisch eine fertiggestellte Wall of Work als People Consent Backlog gezeigt.

Beispiel für Team-Retrospektive People Consent

Abbildung 3: Beispielhafter Ergebnistyp für einen People Consent Backlog

3. Regeln während der Team-Retrospektive

Die Regeln in diesem Framework unterscheiden sich nicht von den Regeln in einer Retrospektive am Ende einer klassischen SCRUM-Iteration. Diese sind

  • die Las Vegas Regel („Vegas Principle“),
  • die Goldene Regel („Golden Rule“) und
  • die Regel der obersten Direktive („Supreme Directive“).

Die Las Vegas Regel wird von der amerikanischen Phrase „What happens in Vegas, stays in Vegas“ abgeleitet und bedeutet für die Team-Retrospektive, dass alles, was in diesem geschützten Rahmen angemerkt, besprochen und diskutiert wird, innerhalb der Team-Retrospektive bleibt und weder von den Teilnehmenden, noch vom RETRO-Master nach außen getragen wird.

Die Goldene Regel besagt, dass sich alle Teilnehmenden der Team-Retrospektive grundsätzlich mit Wertschätzung und Respekt behandeln. Das bedeutet, dass in der Sache selbst sehr hitzig und kontrovers diskutiert werden darf (und, wenn nötig, auch sollte), allerdings auf der persönlichen Ebene jedes Einzelnen stets ein respektierender Umgang vorherrschen muss.

Die Regel der obersten Direktive beschreibt die Grundannahme aller teilnehmenden Personen, dass jede und jeder Teilnehmende in der Zeit seit der letzten Team-Retrospektive (Iteration) stets sein Bestes gegeben hat und mit bestem Wissen und Gewissen gehandelt hat.

4. Rollen bei der Team-Retrospektive

Um eine Team-Retrospektive erfolgreich, zielgerichtet und effektiv durchzuführen, sind zwei Rollen elementar. Die Rolle des Auftraggebers, im Framework als Stakeholder aufgeführt, bezeichnet die Person, entweder Teamleiter, Produktmanager oder Geschäftsführer (in der Regel bei StartUps), die eine organisatorische Herausforderung feststellt. Dieser Stakeholder hat auf den Prozess selbst keinen Einfluss und nimmt daran nicht teil.

Die zweite Rolle ist die des RETRO-Masters. Diese sollte weder Teil des Teams noch Teil der Führungsebene sein. In größeren Organisationen bietet sich hierfür eine neutrale Stabstelle an. In kleineren Organisationen bietet es sich an, diese Rolle extern zu besetzen, etwa durch einen Agile Coach oder einen dedizierten SCRUM- bzw. RETRO-Master. Der RETRO-Master moderiert die korrekte Durchführung des Team-Retrospektive Prozesses, erfasst alle relevanten Erkenntnisse, dokumentiert alle Ergebnisse anonymisiert und konsolidiert diese in einen Ergebnistyp inklusive Handlungsempfehlung an den Stakeholder.

Dieser Service wird durch unsere speziell geschulten Coaches bei Innovationsritter angeboten.

Die dritte Rolle ist die der Teilnehmenden („People“). Diese Personen beeinflussen den inhaltlichen Erfolg einer Team-Retrospektive. Die grundsätzlichen Aufgaben dieser Rollen sind einerseits, die Team-Retrospektive Regeln zu beherzigen und andererseits den größtmöglichen Input während des Prozesses zu liefern. Dies ist wichtig, damit der Nutzen für das gesamte Team, für jeden Teilnehmenden individuell und auch für das Projekt bzw. die Organisation am größten wird.

5. Wann macht eine Team-Retrospektive Sinn?

Genauso, wie herkömmliche Agile Methoden wie SCRUM und KANBAN nur einen Nutzen bringen, wenn der organisatorische Reifegrad und das Umfeld in einer Organisation diese agile Vorgehensweise zulassen, gibt es auch bei der Team-Retrospektive gut geeignete und weniger gut geeignete Szenarien für die Anwendung.

Die Team-Retrospektive als Führungs- und Teambuilding-Instrument ist dann sehr gut geeignet,
wenn …

  • der Stakeholder grundsätzlich ein vertrauensvolles Verhältnis zum Team hat, dort allerdings intern wiederkehrende Probleme auftauchen, die nicht durch einen Vier-Augen Dialog gelöst werden können,
  • es Team-Mitglieder gibt, die tendenziell ein eher zurückhaltendes Wesen haben, allerdings die Qualität ihrer Arbeit in einem gewissen Zeitraum ohne offensichtliche Ursache abgenommen hat,
  • es innerhalb von fachlich unterschiedlichen Teilen eines Teams (bspw.: Software-Entwickler und Designer; oder Ingenieuren und Vertrieb) zu einer schleichenden „Silo-Bildung“ kommt,
  • die Kommunikation innerhalb eines Teams sich ohne erkennbaren Grund verschlechtert hat und dies Auswirkungen auf die Ergebnisse des gesamten Teams hat oder
  • das Team eigeninitiativ beim Stakeholder bezüglich einer Maßnahme anfragt, um die Zusammenarbeit innerhalb des Teams kontinuierlich weiter zu optimieren.

Die Team-Retrospektive ist als Führungs- und Teambuilding-Instrument nicht geeignet,
wenn …

  • der Stakeholder ein distanziertes Verhältnis zum Team hat,
  • das Team in strikte hierarchische Ebenen untergliedert ist,
  • der Stakeholder eine unmittelbare Veränderung nach nur einer Team-Retrospektive und Iteration erhofft, ohne dem Team einen ausreichenden zeitlichen Horizont einzuräumen (bspw.: Drei Iterationen, verteilt über drei Monate),
  • der Stakeholder das Ziel verfolgt, durch konkrete Einflussnahme auf den Retrospektive-Prozess das Mindset des Teams (instransparent) zu manipulieren.

Eine Team-Retrospektive kann nur dann nutzbringend erfolgen, wenn die Basis zwischen der Führungskraft und den Teammitgliedern vertrauensvoll ist und es einen Status Quo gibt, der zumindest qualitativ, idealerweise aber auch quantitativ, erhoben werden kann. Dadurch existiert auch für den Stakeholder eine Bewertungsgrundlage, um den Nutzen und den Erfolg der Team-Retrospektive nachvollziehen zu können.

Über den Autor

André Pscherer

Mit seinem Background in BWL und Digital Business schreibt André über Prozesse, Methoden, Entrepreneurship, Apple und innovative Technologieprodukte.